1. Mai Berlin: Myfest, Bullenarbeit und das Geld?

Historischer Exkurs und was ist los 2023 in Kreuzberg36.

Autonome Recherchearbeit im Myfest-Umfeld war bei der Entstehung des sog. Myfest 2003 noch etwas mehr mit Detektiv-Arbeit verbunden. So mussten sich autonome Genoss*innen damals etwas verkleiden, um bei den bürgerlichen Präsentationstreffen des sog. Myfest – zwischen den spießigen Land Berlin Bullensprechern, Sozialarbeiter*innen, lokalen Kreuzberg-„Bonzen“ und den verschwörerischen Parteileuten nicht gleich aufzufallen. Dabei musste diskret noch Papiermaterial mit Aufzeichnungen der Myfest-Organisator*innen und von den Bullensprechern stibitzt werden.

MYFEST ALS AUFSTANDSBEKÄMPFUNGS-KONZEPT

Das Myfest in Kreuzberg war von Beginn an als „Aufstandsbekämpfungs-Konzept“ angelegt, bei der Planung und Durchführung waren die Berliner Bullenchefs von Anfang an direk mit beteiligt. HipHop-Bühnen mit coolen Reimen und Bullenwanne-Besichtigung mit Steinhagel-Simulation für die Kleinen für Respect und Verständnis mit den Bullen sollten die migrantischen Jugendlichen und Kids davon abhalten, am Revolutionären 1. Mai teilzunehmen. Eine Ballermannisierung mit Sauf- und Fress-Konsum und Gratis-Live-Bands sollte für Entpolitisierung sorgen und die Straßen vollstopfen.

„WIE EIN FISCH IM WASSER“ – ILLEGALE REVOLUTIONÄRE 1. MAI SPONTAN-DEMOS

Trotzdem gelang es ihnen nie komplett, den Revolutionären 1. Mai auch innerhalb dieser Aufstandsbekämpfungs-Festspiele zu verhindern. Beim ersten Myfest 2003 wurden einige Stände abends sogar mal als Barrikadenmaterial benutzt, als es in der Mariannenstraße beim Autohaus voll abging.

[➔ Siehe Video-Doku auf Youtube „20 Jahre Revolutionärer 1. Mai“ – https://www.youtube.com/watch?v=Jsv7cTFEBAU]

Mehrere Jahre lang gab es Spontan-Demos innerhalb dieses Areals – getreu dem maoistischen Motto „Wie die Fische im Wasser schwimmen“. Unter anderem die allerersten komplett illegalen Revolutionären 1. Mai Spontan-Demos mit hunderten bis mehrere Tausend Teilnehmer*innen von 2004 bis 2006, bei denen zwar der Auftaktort bekannt war, aber nicht die Demoroute, so dass die Bullen sich darauf nicht vorbereiten konnten.

[➔ Mobi für 1. Mai 2006 mit Übersicht zu Spontis in den Jahren zuvor – https://web.archive.org/web/20060421095008/http://de.indymedia.org/2006/04/144402.shtmlIndymedia 2006] [➔ Indymedia 2006: Bericht zur Sponti 2006 – https://web.archive.org/web/20060515000717/http://de.indymedia.org/2006/05/145426.shtml]

Anlass dieser ersten unangemeldeten Demos war, dass die Bullen dazu übergegangen waren, große Teile der vom Demo-Bündnis angemeldeten Strecke nicht zulassen zu wollen, weil dort schon das Myfest angemeldet worden sei. Nachdem 2006 das Revolutionäre 1. Mai Bündnis die von den Bullen vorgeschlagene Bullenroute um Kreuzberg herum durch Gebiet ohne Kiezcharakter abgelehnt hatte, erdreisteten sich die Bullen sogar dazu, kurzerhand in der Presse ihre Bullenroute als eine vom Revolutionären 1. Mai Bündnis „nun endlich“ angemeldete Route zu verkünden. Dieses dreiste Bullen-Fake konterten die Autonomen damals, indem sie richtig stellten, dass die Revolutionäre 1. Mai Demo faktisch verboten wurde, und sie daher zu einer illegalen Revolutionären 1. Mai Demo ab Oranienplatz aufriefen. Die da herumlungernden Zivibullen-Gruppen konnten damals nur hektisch hin- und her rennen, mit den Armen herumwedeln und versuchen ein paar kleine Bulleneinheiten in die vollgepfropften Straßen zu rufen, bevor sie im Verlauf teils vertrieben wurden. Bullenwannen konnten da ja nicht durch.

ANMELDUNG VON STRAßENFESTEN DURCH BEZIRK UND BULLEN ALS MIßBRAUCH, UM STRAßENABSPERRUNGEN GEGEN DEMOS ZU ERRICHTEN

Mit dem Myfest wurde so auch geübt, wie durch vorherige Anmeldung von Straßenabschnitten seitens Bezirksbeamter in Zusammenarbeit mit den Bullen einen Teil der Demo-Route, welchen sie als nicht so gut kontrollierbar ansehen, der Revolutionären 1. Mai Demo vorher entzogen werden kann und diese Straßenabschnitte komplett abgeriegelt werden können. Dieses Wissen wurde dann ganz aktuell im letzten Jahr durch den Neuköllner Bezirksbürgermeister benutzt, da sie 2021 angeblich überrascht waren über das Riot-Potential in Neukölln. Die fast menschenleeren Fake-Straßenfeste waren mit Absperrgittern und sogar mit Wasser und Sand befüllten Plastikcontainern, die normalerweise zum Schutz gegen mögliche Terroranschläge mittels Fahrzeug benutzt werden.

[➔ Pressemitteilung des Revolutionären 1. Mai Bündnis 2022 – https://erstermai.nostate.net/post/pressemitteilung-r1mb-24042022-zur-revolutionaren-1-mai-demo-route-und-bezirklichen-strassenfesten]

WAS IST IN SACHEN „MYFEST“ NOCH LOS IN KREUZBERG36 IM JAHRE 2023?

Jetzt heißt es ja jedes Jahr gebetsmühlenartig immer wieder, es sei der friedlichste Revolutionäre 1. Mai – auch wenn es mal wieder kracht und brennt wie 2021. Und während der Corona-Zeit hatten sich viele Anwohner*innen von Kreuzberg36 darauf gefreut, endlich befreit zu sein von der Myfest-Ballermannisierung und dem Myfest-Rumgepisse in den Hauseingängen. Außerdem ist Kreuzberg36 – jetzt neu mit eigener Bullenwache am Kotti – eigentlich schon gut durchgentrifiziert.
Daher ist die Frage natürlich schon wichtig: brauchen die Bullen, die Politiker und die lokalen Bonzen jetzt noch ein Myfest in Kreuzberg36, oder reicht es inzwischen einfach aus, es komplett mittels Absperrgittern und Bullenposten abzuriegeln, wie in den letzten zwei Jahren?

Um zur autonomen Recherchearbeit zurückzukommen: die ist heutzutage einfacher. Es ist das meiste online direkt nachzulesen. Es muss nur der „Spur des Geldes“ gefolgt werden, um zu sehen, was 2023 in Sachen „Myfest“ in Kreuzberg36 noch geht.

Laut Pressemeldungen vom 18. Dezember 2022 wolle das Bezirksamt mit der Bezirksbürgermeisterin Clara Hermann nicht mehr Organisator*in des Myfests sein und plane auch keine alternative Großveranstaltung, sprich, wolle eigentlich keine großen Geldsummen da rein pumpen. Sie gab vor, dass sie nicht wisse, ob womöglich der „private Trägerverein“, der das Myfest in der Vergangenheit organisiert hatte, womöglich doch noch weiterhin das Myfest organisieren wollen würde.

[➔ taz: „Kreuzberg plant 1. Mai eher klein“ – https://taz.de/!5904718]

Um hier Klarheit reinzubringen: die Antwort wird wahrscheinlich „Nein“ sein, denn das Konglomerat des sog. „privaten Trägervereins“ bestand aus Lokalpolitiker*innen (von Grüne bis SPD), Lokal-Bonzen, Sozialarbeiter*innen mit merkwürdiger Berufsauffassung, lokalen Möchtegern-Künstler*innen, den angegliederten Bullenvorposten usw. Und diese waren natürlich hundertprozentig abhängig vom Geld des Landes Berlin, welches das Myfest mitfinanzierte, und des Bezirksamts. Außer die SPD, CDU und ihre neue Bullenwache organisieren selbst ein eigenständiges Bullenfest: die GdP könnte ja das ganze mit Trinkbechern, Geschirr und Besteck (inklusive rassistische „Blue Thin Line“-Aufdrucke) sponsern.

MYFEST ODER KEIN FEST, ODER BACK TO THE BEGINNING 2000s?

Bereits angemeldet für Festbühnen und Stände sind inzwischen – laut Bullenseite auf berlin.de – schon zwei größere Areale:

1. Die gesamte Oranienstraße von Ecke Manteuffelstraße bis zum Oranienplatz unter dem Motto „HOLD YOUR GROUND“ („Wir versammeln uns, um Stellung zur Gentrifizierung zu beziehen, Freiräume in unserm Kiez zu erhalten und die Freiheit zu erhalten, das zu tun, was wir tun.“). 2017 war im Myfest unter dem exakt gleichen Motto die Punk- und Hardcore-Bühne vorm Core-Tex (Oranienstraße Nähe Manteuffelstraße) so angemeldet worden.

2. Mehrere am Mariannenplatz gelegene Straßen (Mariannenstraße bis Heinrichplatz, Waldemarstraße von Mariannenplatz bis zur Adalbertstraße,…) unter dem Motto „HAND IN HAND GEGEN KRIEG“ („Wir versammeln uns, um Stellung gegen Krieg und Vertreibung, Hand in Hand, zu beziehen. Wir sind deutsch, türkisch, zaza, arabisch und kurdisch.“). Unter diesem Motto war im Myfest 2017 der Bereich Waldemarstraße zwischen Feuerwehrbrunnen und Mariannenplatz angemeldet, mit einer Bühne der linken kurdischen Bewegung.

In der Vergangenheit fand auf dem Mariannenplatz das eher politische von der Linkspartei angemeldete 1. Mai Fest mit linken Ständen und einer Bühne mit halbwegs politischen Bands statt. Dies wird wahrscheinlich auch in diesem Jahr der Fall sein, zumindest wurde der Mariannenplatz nun als „1.Mai-Fest der LINKEN auf dem Mariannenplatz“ angemeldet (28.03.2023).

Die Linkspartei beschwerte sich zwar in der Tageszeitung „Neues Deutschland“ darüber, dass die grüne Bezirksbürgermeisterin im Alleingang das Myfest abgesagt habe. Was sie nicht sagen: und somit das Bezirkssponsoring weitgehendst wegfällt. Das gibt es wohl nur, wenn die Bullen Mit-Organisatoren sind.

[➔ ND: „Myfest oder kein Fest“ – https://www.nd-aktuell.de/artikel/1169449.erster-mai-myfest-oder-kein-fest.html]

Dennoch ist davon auszugehen, dass die Linkspartei und die kurdische Bewegung das Fest auf dem Mariannenplatz und am Feuerwehrbrunnen auch ohne bezirkliche Finanzspritze auf die Reihe kriegen. Und die alternativen Club-, Musik- und Merchandise Kleinunternehmer*innen von Core Tex, So36 und Co werden sicherlich auch genug Eigenkapital haben, um ihr Ding in der Oranienstraße zu stemmen.

Bisland gibt es aber nur die Anmeldungen für diese Bereiche als Anhaltspunk, dass dort wieder Bühnen und eventuelle Stände geplant sind, öffentliche Verlautbarungen seitens der Veranstalter*innen oder Anmelder*innen dieser ehemaligen Myfest-Areale gibt es aber noch nicht.

Weil der 1. Mai als Feiertag auf den Montag fällt, werden die Bullen versuchen abends so früh wie möglich in diesem Gebiet zwischen O-Platz, Heinrichplatz und Mariannnenplatz die Straßen frei zu machen für die BSR-Straßenreinigung – zur Not auch mittels Prügeleinsätzen und Verhaftungen.

Ein weiterer Player im Myfest-Geplänkel von Kreuzgerg36 ist 2023 sicherlich auch die neue Bullenwache am Kotti. Ob die Bullen Kreuzberg36 wieder weiträumig abriegeln können, um ihre most hated City-Wache vor der Demo „zu schützen“, wird spannend, denn im Gegensatz zum letzten Jahr werden sich wieder zahlreiche feiernde Menschen zwischen Oranienplatz, Heinrichplatz und Mariannenplatz aufhalten, die sich dann ebenfalls im Absperrgitter-Gehege der Bullen befinden würden.

Quelle: Artikel/Beitrag vom 27.03.2023 auf dem Blog „erstermai.nostate.net – Revolutionären 1. Mai Berlin #R1MB“

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